•23. Dezember 2016 •
„Ich wünscht’, ich wäre ein Vöglein
Und zöge über das Meer;
Wohl über das Meer und weiter,
Bis dass ich im Himmel wär’“
Diese Verse bilden die letzte Strophe des Gedichtes „Stille“ von Eichendorff. Das Gedicht ist insgesamt mit einem tief melancholischen Unterton versehen, der sich in jener Strophe auf besondere Art und Weise dem Lesenden zu verstehen gibt. Erst scheint es, als wollte das lyrische Ich einem Vogel gleich frei in die Ferne und über das weite Meer fliegen, ja sogar noch ferner in die endlosen Weiten des blauen Himmels, der sich am Horizont über dem Meer erstreckt. Doch der Himmel kann ebenso als Endpunkt angesehen werden, als das Reich Gottes, in diesem das Leben nach dem Tod wartet. Insofern können die vier Verse sowohl so verstanden werden, dass das lyrische Ich in die Ferne fliegen will, als auch auf die Art, dass es in seinem Weltenschmerz gefangen eine Todessehnsucht verspürt.
Es ist im Falle des Gedichts Eichendorffs gleichsam müßig wie für alle Gedichte mit traurigem, melancholischen oder allgemein düsteren Inhalt, nachzufragen, was wohl der Autor in diesem Moment dachte und wie er sich damals oder momentan fühlt. Dieses Interesse ist nur Folge einer voyeuristischen Neugier unserer Tage, die am eigentlichen vermeintlichen Leid des Schreibenden gar nicht interessiert ist, sondern lediglich daran, zu überprüfen, ob die wilden Vermutungen, die man beim und nach dem Lesen anstellte, tatsächlich zutreffen oder nicht. Man will im Grunde nur wissen, ob man diejenige ist, die in mancherlei Versen verdammt wird, ob man derjenige ist, dem ein lyrisches Ich Rache geschworen hat, ob der Autor tatsächlich eine Trennung durchlebte oder irgendetwas erlebte und so weiter …
Dieses voyeuristische Interesse wird leider durch viele Autoren genährt, die absichtlich ihre Texte so konzipieren, auf dass sie gerade zu schreien: „Lest diese Verse und stellt wilde Vermutungen an. Zeigt mir, dass ich für euch interessant bin.“ Ich will nicht sagen, dass es falsch ist, sehr persönliche Gedanken niederzuschreiben. Doch entweder sollten die entstandenen Texte nicht veröffentlicht werden (denn deren Qualität ist in der Regel miserabel, wie jüngst unzählige Betroffenheitsslyriker nach den Ereignissen in Berlin zeigten) oder so konzipiert werden, dass der Autor dahinter in gewissem Sinne verschwindet. Und er verschwindet genau dann, wenn er nicht eins zu eins seinen Fall niederschreibt, sondern ein Gedicht verfasst, welches ein Grundmotiv zur Schau stellt, und zwar genau so, dass sich die Lesenden selbst darin wiederfinden können. Das Gedicht „Stille“ ist dafür eines der besten Beispiele Eichendorffs. Gelingt dies dem Dichter, verebbt das voyeuristische Interesse und der Lesende wird eher dazu veranlasst, selbst zu reflektieren, wieso ihn jene Verse derartig ansprechen, in welcher Lage er sich befindet, wie diese Lage bewältigen kann … Durch das Wiederfinden in der Trauer eines Gedichtes und der anschließenden Selbstreflexion vermögen Gedichte, wie unter anderem „Stille“, einen Katharsis-Effekt auszulösen. Sie veranlassen uns zum Nachdenken, auf dass wir im besten Falle eine Reinigung unseres Seelenlebens genießen dürfen.
In einer Zeit, in der es immer mehr verpönt zu sein scheint, seine Trauer grundehrlich zu zeigen, wollte ich dem Eichendorffschen Vorbild folgen und Texte schreiben, in denen sich der Lesende wiederfinden kann, ohne Vermutungen über den Autoren anzustellen. In diesem Zuge ist die nachfolgende Textsammlung entstanden. Neben den traurigen bis melancholischen Inhalten zeigen die unterschiedlichen Texte verschiedene Gedichtarten. Unter anderem sind neben bekannten Liedstrophen Texte in freien Metren zu lesen und ich wagte mich einmal mehr an eine Textform, die aus dem Kapitel „Des Nachts“ aus meinem Buch „Der Kairos“ dem ein oder anderen bekannt sein dürfte.
Vielleicht gelang es mir, das hochgestochene Ziel zu erreichen, ein wenig Eichendorff nachzukommen, vielleicht bin ich kläglich gescheitert. Ich freue mich auf euer Feedback und wünsche eine interessante Lesezeit.
Ausweglosigkeit
Unter nächtlicher Erde,
beschienen vom fahlen Mondlicht,
liegt Altes begraben.
Leises, fernes Meerrauschen
lockt meine Seele hinfort.
Doch sie muss bleiben.
Ich muss bleiben.
Auf dem Felde
Bitterlich klagen die Raben
auf längst kahlen Ästen.
Ruhe bringt die Abendkälte.
Mit matten Farben
weist der Horizont
meinen Sehnsuchtsblick ab.
Was nützt das Seufzen?
Es bleibt doch unverstanden.
Auf einem blauen Berg
Auf einem blauen Berg,
da will ich heute stehen
und jeden Wanderweg
im Nebel ruhen sehen.
Vom Gipfel würde ich
mit freiem Lachen springen
und meine Lebensmär
zu einem Ende bringen.
Bernsteinhimmel
Kaum streicheln noch
die Seewogen das Kiesufer.
Unter dem Bernsteinhimmel
seufze ich in mich hinein.
Wärst du hier, ach,
den Himmel würdest du
ja doch nicht verstehen.
Ende
Nun liege ich –
durch mich zerbrochen,
in Teilen zerstreut –
und sehe, wie alles
sich im Weltenlauf entfernt.
Hätte ich noch Hände,
ich griff nach mir.
Hätte ich noch Beine,
ich lief’ zu mir.
Doch nun liege ich –
durch mich zerbrochen,
in Teilen zerstreut –
Mir war ich ein Feind.
Ich siegte und verlor.
Sommergewitter
Sommergewitter
erhellen die Wüstennacht
und fordern Tribut.
Nacht nach vier Jahren
Schritt um Schritt kam meine Nacht.
Schritt um Schritt gab ich mich auf.
Jetzt nimmt alles seinen Lauf.
Was nur habe ich gemacht?
Schritt um Schritt ging ich stolz mit.
Schritt um Schritt vergaß ich mich.
Nach vier Jahren wurde ich,
was ich einst so wild bestritt.
Schritt um Schritt betäubt die Pein.
Schritt um Schritt entflieht mir Kraft.
Horch, oh Nacht, es ist geschafft!
Endlich bin ich ganz allein.
Kieselstein
Über einen dämmerfarbenen
Sommersee
gleitet ein prächtiger
Kieselstein,
bis er
plötzlich
versinkt.
Niemand wird ihn finden.
Ich beneide ihn.
Schneekristall
Der Morgenwind blies scharf und rau.
Am Stadtteich wollte niemand weilen.
In ihm zog dichtes Wolkengrau.
Die Wellen wollten es zerteilen.
Ich sah im Teich vom Uferrand
mein Spiegelbild im Grau zergehen.
Und wie ich dort alleine stand,
begann der Wind noch mehr zu wehen.
Vom Himmelszelt im Taumelfall
kam sanft auf meine Hand hernieder
ein leuchtend reiner Schneekristall.
Ein Lächeln kam mir erstmals wieder.
Für einen frohen Atemzug
war jeder Klagelaut vergangen.
Mein Geist war frei, mein Herz, es schlug
entfacht von vielerlei Verlangen.
Alsdann begann die weise Pracht
von meiner Zitterhand zu scheiden.
Sechs Eiseszacken schmolzen sacht.
Ich konnte alles nicht vermeiden.
Auf einmal war ich fern und tief
in meinen tobenden Gedanken.
Und als ich deinen Namen rief,
erschrak ich mich und kam ins Wanken.
Du bliebst so lang in deinem Glück.
Dir wurde es mit Stolz gegeben.
Nur kurz kamst du zu mir zurück
und lebtest schon ein neues Leben.
„Sag’! Weiß du denn noch, wer ich bin?“
Ach, wie rhetorisch war mein Fragen!
Doch dir kam nicht mehr in den Sinn,
als mir gelangweilt „Nein.“ zu sagen.
Als Wassertröpfchen tränengleich
fiel jener Schneekristall hinunter.
Ich schaute starr und wurde bleich.
Im Geiste sah ich dich mitunter.
Noch weilte ich im grauen Schein.
Es wurden viele Kältestunden.
Ich sog das Grau in mich hinein
und wurde dann nie mehr gefunden.
Ohne Hoffnung
Ein letzter Sonnenstrahl
verlässt meinen Körper.
Im Winterabendblau
verliert sich jeder Atemzug.
Mein Zitterblick sehnt sich
in Richtung Horizont.
Er ist leer.
Langsamer schlägt mein Herz.
Ich bewege mich nicht mehr.
Selbstgespräch
Im Mondwald saß ich gestern still.
Mein Herz, es schlug beklommen.
Es wusste nicht mehr, was es will.
Ich war vom Schmerz benommen.
Doch von dem Himmel fiel ein Licht
mit engelsgleichem Schimmer.
Es gab mir Wärme, gab mir Sicht
und nahm mir mein Gewimmer.
Du armer, ach du armer Wicht,
ein Engel kam geflogen?
Du weißt, so etwas gibt es nicht.
Du hast dich selbst betrogen!
Das war ein Werk der Fantasie.
Davon ist nichts geschehen.
Ach, Aberglaube wird wohl nie
in dieser Welt vergehen.
Du hast bestimmt mit allem Recht.
Ich will es nicht bestreiten.
Es war ein Traum und nichts war echt.
Ich ließ mich wohl verleiten.
Doch wird das Denken eine Last,
will ich zumindest träumen.
Ich suchte Ruhe, suchte Rast
im Mondwald unter Bäumen.
Später Erkenntnis
Meine Augen sind salzverkrustet.
Aus meinen Mund dringt Staub.
Weh mir! Weh mir!
Ich berge eine Wüste.
Verkopft am Grenenstrand
Es sei an der Zeit?
Lass deine Liebkosungen!
Hinfort mit dir!
Der Aufbruch stünde bevor?
Dann geh! Geh mit deinem Kopf!
Am Grenenstrand will ich
starren, zittern, leiden!
Verstehst du nicht?
Ich will fühlen!
Verlorene Winterzeiten
Die Winternacht ist trüb und lau.
Nicht eine Flocke wird sich zeigen.
Mein Herz, du weißt es ganz genau:
Im Schwarzen wirst du heute schweigen.
War es nicht erst vor einem Jahr,
als ich von weißen Feldern schwärmte
und ich vom Glück benommen war,
als ich noch deine Hände wärmte?
Statt Schneefall setzt nun Regen ein.
Ach, Hoffnung kann doch nur verleiten!
Drum schweig, mein Herz, im Schwarz allein.
Verloren sind die Winterzeiten.
Weltenbrand
Erstarkt eines der vier Elemente,
folgt alsdann der Weltenbrand,
auf dass alles vergeht
im letzten und ersten Flammenmeer.
Draußen brechen die Wolken.
Die Kanäle sind voll.
Die Dämme brechen.
Mich überkommt die Hoffnung.
Wenn …
(oder: Die letzten Verse)
Wenn über stillen Lindenbäumen,
der Mond die Nacht erhellt
und alle voller Hoffnung träumen
von einer bess’ren Welt,
bin ich mit sehnsuchtsvollem Pochen
in meiner Brust längst aufgebrochen.
Mich führt allein das Sternenzelt.
In fremde Spuren trete ich,
um keine selbst zu hinterlassen.
Die Sterne nur begleiten mich.
Wir wissen, uns kann niemand fassen.
Die Menschen liegen hinter mir.
Entflohen bin ich ihren Massen.
Entfliehen wollte ich auch dir,
um dich, oh Liebe, nicht zu hassen.
Wenn immerzu die Ähren rauschen,
der Wind nun Wolken bringt,
die Felder meinen Schritten lauschen,
der Mond allmählich sinkt,
vergesse ich mein altes Leben,
mein Sorgen, Fürchten, alles Streben.
Und schaut, wie leicht mir das gelingt!
Ich reiße alle Brücken ein,
die Tal und Flüsse überqueren.
Ich will ein Namenloser sein
und allem meinen Rücken kehren.
Nun denkt von euch nicht allzu gut!
Euch Menschen kann ich leicht entbehren.
Und nimmermehr von meinem Blut
wirst du je wieder etwas zehren.
Wenn mit den ersten Sonnenstrahlen
mein neuer Tag beginnt,
euch aber unter Alltagsqualen
die Lebenszeit verrinnt,
dann flucht und neidet in der Ferne,
dass eure Nacht, die Silbersterne
und schließlich ich verschwunden sind.
Veröffentlicht in Gedanken zur Zeit
Schlagwörter: Eichendorff, Gedanken, Gedichte, Leid, Lyrik, Melancholie, Pein, Trauer, Weltenschmerz